Monatsgeschichte für den Monat Januar 2019

ALS VERSAGERIN BEI WECKERS

Kay Ganahl

Vorne ist ein leicht bewaldeter Hügel zu sehen. Hinter ihm, gerade noch von hier aus erkennbar, eine weiße Kapelle, zu der nur noch ab und zu Touristen den Weg finden:  Japaner, Engländer, manchmal auch Touristen aus anderen Ländern. Der Hügel ist einer von mehreren in dieser landschaftlich ziemlich reizvollen Gegend. Die Besiedlungsdichte hier ist sehr dünn, auf diesem besagten bewaldeten Hügel hat eine Familie ihr bescheidenes Domizil, das sie ungern verlässt. Früher wurde auf diesem Hügel wie überall in der Gegend mal rege gewirtschaftet – die Landwirtschaft nahm einen breiten Raum ein. Auf den Tourismus war man nicht angewiesen! Seitdem die Landwirtschaft nicht mehr rentabel ist, wird auf sie fast ganz verzichtet. Seit dem Aufkommen des Tourismus wurde in der Gegend überall die Infrastruktur wesentlich verbessert, gewissermaßen ist erst mit ihm die Zivilisation richtig eingezogen, wenngleich so mancher Senior meint, dass es früher viel besser gewesen sei. Die Jüngeren haben sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung abgefunden. Es gibt durchaus den einen oder anderen Bewohner der Mroder Gegend, der die neue Zeit hoch schätzt. Zum guten Ton gehört es bei den Bewohnern aller Hügel und der Kleinstadt Mrod, dass gesagt wird „Uns geht es doch auch gut!“.  Kurzum, irgendwie finden sich fast alle, die hier zu Hause sind, zurecht. Aber man hat noch nicht gehört, dass irgendjemand die neue Zeit der touristischen Heimsuchung als große Zeit bezeichnet hätte, denn das ist sie offensichtlich nicht.

Die aparte 15jährige Beatrix gehört seit Langem zur Familie, die auf diesem einen bewaldeten Hügel nahe Mrod wohnt, aber trotzdem anerkennt man sie nicht als vollwertiges Familienmitglied. Die vielen Jahre haben daran nichts geändert, es sind nun schon fast zehn. Ihre Pflegefamilie, die Familie Wecker, ist in Mrod als Familienhügel-Familie bekannt. Haushaltsvorstand Kurt Wecker, von Beruf Elektroniker, findet diese Bezeichnung unerträglich, aber die Beschwerden bei allen möglichen Kleinstädtern haben nichts genutzt: die Weckers haben den Ruf als Deppen vom Lande nun einmal weg.

Wenn die auch als reichlich vorlaut geltende Beatrix , was selten vorkommt, mit ihrem portablen CD-Player, Knopf im Ohr, allein durch Mrod geht, dann fühlt sie sich schon viel besser als in ihrer Pflegefamilie aufgehoben, wenn auch bei weitem kein Glücksgefühl aufkommt, was ihr aber nicht so viel ausmacht.  Gern würde sie in die Kleinstadt ziehen. Pflegevater Kurt wird es ihr nicht erlauben, weshalb sie nur noch darauf wartet, endlich volljährig zu werden. „Die Mroder sind aufgeschlossener, netter, umgänglicher!“ tönt sie in ihrer Familie häufig herum, kein Wunder, dass sie Pflegemutter Maische als „Verrückte“ hinstellt. Immer wieder sucht sie den Konflikt mit ihrer Pflegetochter, die ihrerseits um keine beleidigende Erwiderung verlegen ist, was in der Familie für eine Grundstimmung sorgt, die für Beatrix natürlich auf Dauer inakzeptabel ist. Die Mroder kennen Beatrix, sie mögen sie sogar. Ja, die Mroder, genauer: Edelfriseur Lagarde, der in seinem Salon allerhand fachliche Dienstleistungen anbietet, hat ihr schon eine Ausbildungsstelle offeriert. Noch hat Beatrix das nicht angenommen. Bald wird sie ihren ersten Schulabschluss in der Tasche haben – dann steht eine weitere wichtige Entscheidung an, nämlich ob sie weiter zur Schule geht oder nicht. Sie könnte sich eine höhere berufliche Zukunft vorstellen. Heutzutage geht man lange zur Schule, wenn es irgend geht.

Die missliche Grundstimmung bei den Weckers, die eben auch deswegen misslich ist, weil Beatrix als Mensch nicht anerkannt wird, trägt nicht dazu bei, dass Beatrix auch nur die geringste Anhänglichkeit zu ihrer Pflegefamilie entwickelt hat. Sie kann es nicht mehr abwarten, wegzukommen. Nur zu gern will sie auch jetzt schon mit Jungen ausgehen und „das Leben genießen“, sie selbst sein und  machen, was ihr wichtig ist! Sie will bei anderen, ihr gewogenen Menschen Zuneigung, sogar Liebe erwerben. Das muss möglich sein.

Wenn das schon sehr bald Realität werden soll, so muss sie dem anstrengenden Alltag in Familie und Schule entfliehen, doch gerade das will sie nicht: keine Flucht! Das wäre peinlich! Natürlich will sie sich die Zukunft nicht durch voreilige Schritte verbauen. Den Schulbesuch hält sie mindestens bis zum anstehenden ersten und so wichtigen Abschluss für absolut notwendig. Vielleicht denken viele ihrer Mitschüler so. Sie denkt jedenfalls so!

Wie schon deutlich gemacht, ihr Alltagsleben findet sie anstrengend, manchmal fast unerträglich – also kriecht sie nur mehr durch ihren Alltag (jede Streiterei mit ihrer Pflegemutter ist durchaus eine Abwechslung), dieses quälende Alltägliche: steht morgens auf, zieht sich an, geht in den Frühstücksraum im Haus ihrer Pflegefamilie, findet Elterliches nur noch öde, zerbricht zufällig-versehentlich Becher, Tassen oder Kaffeekannen. Immer will sie am liebsten wieder ins Bett zurück, um den Morgen mit Schlafen zu verbringen, doch „Der Schulunterricht ist ein Muss. Noch. Noch! Ich treffe Entscheidungen …!“  Die Pflegeeltern sitzen mit am Frühstückstisch und zeigen, wie gelangweilt sie sind. Sie sagen kaum etwas, ihre Autorität halten sie für das Selbstverständlichste auf der Welt. Und so sind Fragen nicht erlaubt. Ein freundliches, offenes Miteinander am Frühstückstisch und auch später am Tag ist undenkbar. Ihr oft vorkommendes abfälliges Grinsen, das in Richtung Beatrix geht, beweist ihr ein ums andere Mal, dass sie in dieser Familie längst nur noch geduldet ist!

„Wenn das so … beschissen … sorry … bleibt, unendlich fade und trist, dann muss ich ausbrechen!“ entfährt es ihr einmal, aber selbst in diesem Augenblick der Bloßstellung der Pflegefamilie sagt Kurt, der Haushaltsvorstand, nicht mehr als „Wenn du meinst, du Biest!“ Beatrix würde diese Äußerung jederzeit wiederholen, wenn es einen Nutzen hätte, jedoch ist selbst so eine Äußerung nur in den Wind geblasen, wenn daraus keine offene Auseinandersetzung wird, in der Beatrix nicht unbedingt schlecht aussieht. Für sie ist eine offene Auseinandersetzung besser als die immer größer werdende Gleichgültigkeit ihrer Pflegeeltern, die mittlerweile sehr nervt. Geschäfte, Geschäfte, Geschäfte: darum geht es der Familie Wecker im Grunde nur.

© Kay Ganahl

Monatsgeschichte für den Monat Oktober 2018

Herbst

Der goldene Wald seufzt
Arbeitslos und welkend
Sich auf das kalte Alter vorbereitend
Stürme weisen auf den Lebensabend hin
Nebel flüstern leise ihren kühlen Hauch
In die morschen Baumglieder

Der Abend singt sein raues Schlaflied
Bis die Bäume kaum hörbar schnarchen
Zwischen Sommer und Winter
Verschenken sie ihre warmfarbigen Sonnenblätter
Bis sie sich nackt schämen
Und auf die weiße Decke warten,
die sie im Winter wärmt.

© Beate Kunisch

„Vom Jagdfieber gepackt“ – oder auch „Wer jagt hier wen?“

Ich bin Lucky, und ich muss euch was erzählen.

Gestern war ich mit meinem Frauchen Gassi gehen. Das tun wir mehrmals am Tag. Ich find’s toll. Alles voller Gerüche. Manchmal hat mir Tobi, der Dackel von nebenan, eine Nachricht dagelassen. Und einen Duft erkenne ich sofort, den von Lucy. Dann bin ich ganz aufgeregt. Sie ist eine sehr vornehme Pudeldame, immer nach der neuesten Mode geschoren. Ich habe schon oft versucht, ihr näher zu kommen. Es ist nicht einfach, sie ist zickig.

Aber ich schweife ab. Also: Ich war mit Frauchen auf dem Weg zum Wald. Sie lässt mich immer nur an der Leine laufen. So was Albernes. Sie selbst läuft frei herum. Joggen nennt sie das. Sieht aus wie rennen, ist aber viel zu langsam. Ich weiß, wie man richtig rennt, aber ich darf nicht.

Stellt euch vor: Da sitzt ein dicker Hase im Gras. Frauchen läuft genau in seine Richtung. Sie läuft und läuft. Doch das wird nichts, sehe ich schon. Nun renn doch! So fängt sie den Hasen nie. Ich will von der Leine, belle so laut ich kann. Doch sie lässt nicht locker. Der Hase schlägt Haken und macht sich aus dem Staub. Och nee. Ich krieg den noch. Ich kann richtig rennen. Mach mich doch los!

Da, endlich. Diese doofe Strippe rutscht ihr aus der Hand. Jetzt zeige ich ihr, wie schnell ich bin. Aber wo ist der Hase? Ich renne dahin, wo er eben noch war, schnüffle überall – nichts. Renne weiter, Frauchen hinterher. Plötzlich kann sie schneller. Und da bleibt auch noch der Strick im Gestrüpp hängen.

Ich ziehe und zerre und… Dann ist Frauchen da. Sie macht die Leine von dem Gestrüpp los und wickelt sie fest um ihre Hand. Dabei schimpft sie ständig mit mir, weil ich mich losgerissen habe. Sie hält die Leine so kurz, dass ich direkt neben ihr gehen muss, ganz langsam. Sie kann echt blöd sein. Losgerissen, püh! Ja, was bleibt mir denn anderes übrig? Seien wir mal ehrlich: So wie die läuft, wird sie nie was fangen.

© Martina Hörle

Monatsgeschichte für den Monat Juli 2018

Fang die Sau
(Pierre erzählt)

Mein Vater war der liebeswerteste und verständnisvollste Vater, den ich mir je wünschen konnte. Bis auf den Tag an dem Cochonette geboren wurde und Oma Lisa rote Wangen bekam. Da verwandelte er sich in einen wütenden Stier.

Unsere Familie, das heißt. meine Eltern, Oma Lisa, meine drei jüngeren Schwestern, Marie, Sophie, Toinette und ich, der Älteste, hatten eine Metzgerei auf dem Platz eines kleinen Städtchens namens Poitiers in den Limouren.

Während unser Vater im Laden stand, unsere Mutter im Wohnzimmer am Klavier Sonaten klimperte und Oma Lisa in der Küche hantierte, lungerten wir Kinder auf der Strasse oder im Hof herum. Nachdem wir uns lange genug gelangweilt hatten, erfanden wir dann die mannigfaltigsten Spiele. Wir besaßen wenige Spielsachen. So mussten wir uns mit Steinen, Eimern, Erde, Stühlen oder Flaschen, also allem, was herumstand, begnügen. Jeden Tag erfanden wir neuere und bessere Spiele.

Ein Spiel aber war das beliebteste Spiel von allen. Es hieß „Fang die Sau“.

Sobald wir sicher waren, dass die Erwachsenen im Laden oder im Haus beschäftigt waren, rannten wir los, öffneten das große Tor zum Kühlraum der Metzgerei, sprangen auf die an beweglichen Haken hängenden Schweinehälften, die sich sofort in Bewegung setzten, denn die Haken waren in langen an der Decke befestigten Schienen verankert, und düsten in einem Affentempo von der einen Seite des Kühlraumes zur anderen. Das war aber noch nicht alles. Während des Gleitens musste man die Schuhsolen in einen der Eimer eintauchen, in denen sich blutige Innereien befanden, dann die Beine strecken und an der weißgekachelten Zielwand einen blutigen Fußabdruck hinterlassen. Danach kam es zur Siegerehrung. Derjenige, dessen Schuhabdruck am höchsten war, war der Sieger und hatte somit beim Abendessen die Wahl, von einem der anderen den Nachtisch einzufordern, oder zu bestimmen, wer seine gehasste Spinatportion aufessen muss.

Die Eltern durften auf keinen Fall von unserem Lieblingsspiel erfahren. Soweit reichte ihre Liebe nicht. So wuschen wir jedes Mal die Sohlen und die gekachelte Wand wieder blitzblank.

Eines schicksalhaften Tages aber hörten wir von oben aus der Wohnung ein lautes Jammern und Wimmern.

„Wir bekommen ein Kätzchen“, freute sich Toinette.
„Oder ein kleines Schweinchen!“, rief voll Begeisterung Sophie.

Und so rannten wir hoch zu unseren Eltern, um das Geschenk entgegen zu nehmen und vergaßen, die Spuren unseres Spiels zu beseitigen.

Oben im Schlafzimmer lag unsere Mutter im Bett und hielt ein rosiges, pausbackiges Schweinchen im Arm. Das Schweinchen spuckte, quiekte und schrie so laut, dass die rosige Haut purpurrot wurde.

Zu unserem Erstaunen erfuhren wir, dass dies nicht das von uns heiß ersehnte Haustier war, sondern unsere kleine Schwester, die zur allgemeinen Belustigung den Namen Cochonette (Schweinchen) erhielt.

Während sich aber die ganze Familie um das Baby versammelte, spielte sich unten im Kühlraum eine dramatische Szene ab. Im offenen Tor des Kühlraumes erschien ein Mann im dunklen Anzug und Hut mit einem dicken Heft unter dem Arm. Dieser schwarze Herr war vom hiesigen Ordnungsamt.

Die weiteren Gegebenheiten kann ich nicht chronologisch wiedergeben, denn mein Unterbewusstsein hat sie als besonders schmerzhaft im hintersten Winkel meiner Seele vergraben.

Lebhaft erinnern kann ich mich aber an Vaters schwarzen Regenschirm, der direkt nachdem der Ordnungsbeamte gegangen war, auf meinem Rücken herumtanzte. Schlimmer noch, am Abend, als meine Schwestern schon schliefen, bekam ich vom Vater eine Predigt, dass ich als Ältester völlig versagt hätte.

Bis in die tiefe Nacht stritten sich meine Eltern im Schlafzimmer. Meine Mutter schrie meinen Vater an, er solle mit der Kinderfabrikation endlich aufhören, dann hätte sie mehr Zeit für jeden Einzelnen von uns. Mein Vater warf ihr das ewige Klaviergeklimpere vor, das zu nichts nütze und nur ihre wertvolle Zeit koste. Ich lag lange wach im Bett und fühlte mich verantwortlich.

Alles das hätte ich noch wegstecken können. Als ich aber im Flur des Gerichtsgebäudes am Tag der Verhandlung Tränen in den Augen meines Vaters sah, wünschte ich mir, ich wäre tot. Die Verhandlung war schnell vorbei. Mein Vater musste eine satte Strafe bezahlen und monatliche Kontrollen des Ordnungsamtes über sich ergehen lassen.

Wäre Cochonette nicht gewesen, die auf dem Rückweg im Auto im Arm meiner Mutter lag und vergnügt grunzte und schmatzte und ihre Händchen um unsere Finger schloss, wäre unsere Familie nie wieder glücklich geworden.

Als wir nach Hause zurückkehrten, kam uns Oma Lisa mit geröteten Wangen entgegen und berichtete aufgeregt, dass sie heute einen enormen Umsatz erzielt hätte. Alle kamen in den Laden, denn sie waren neugierig, was bei der Verhandlung herausgekommen war und kauften ordentlich ein. Das stimmte meinen Vater wieder milder. Beim Abendessen legte er mir den Arm um die Schultern und zwinkerte mir verschmitzt zu.

© Karla J. Butterfield

 

Monatsgeschichte für den Monat Juni 2018

Auch so ein Stalking

Sie lief ihm nach. Das war nicht zu übersehen. Ich beobachtete beide, wie sie auf dem Bürgersteig – eine junge, etwa zwanzigjährige Frau hinter einem eher Fünfzigjährigen – unterwegs waren. Die im Ort als „Büchertante“ verschriene Frau, die sich vorgenommen hatte, diesen Menschen für sich selbst zu vereinnahmen, ließ seit Tagen nicht locker. Sie hatte es ja überall verkündet. Und er konnte das, was sie tat, so nahm ich in diesen Augenblicken als Beobachter an, nur als Stalking wahrnehmen. Ich beobachtete ganz genau: Sie war jetzt nur ein paar Meter hinter ihm. Ihr gelber Jeansrucksack, in dem sie irgendetwas Schweres transportierte, war an der Seite schon leicht eingerissen. Schaute ein Buch heraus? In ihrem verzerrten Gesicht las ich die blanke Wut. Ich dachte aber nicht, dass sie Böses beabsichtigte, denn sonst hätte ich eingreifen müssen.

Der verfolgte Hans blickte sich nervös um, wenn nicht sogar etwas ängstlich. Was er wohl dachte? Sie stieß dann einen Fluch aus, woraufhin er weiterstrebte. Offensichtlich stark verunsichert. Dann geschah es: Sie nahm den Rucksack herunter, um ihn dem Mann in den Rücken zu werfen, so dass er vornüber auf den Bürgersteig stürzte. Ein lauter Aufschrei! Alsdann fiel sie über ihn her. Die sportliche junge Frau setzte ihm ordentlich zu. Er wehrte sich kaum dagegen.

Die Hilfeschreie hörte keiner, nicht einmal ich. Jedenfalls wollte ich ihm nicht helfen. Und so machte sich bei mir das schlechte Gewissen bemerkbar. Ich lief zu beiden hin, und dann riss ich den gelben Rucksack von beiden weg. Ich öffnete ihn in einem nahen Hauseingang. Was ich an Sachen erblickte, erstaunte mich durchaus: Einige Bücher. Durfte mich das denn erstaunen – ? Sie war doch die „Büchertante“. Der Kampf der beiden ging ohne mein Eingreifen weiter, noch lauter gar.

Und ich setzte mich mit einem der Bücher in Händen auf die Treppe des Hauseingangs, wo ich mich in die schön gedrechselten Sätze dieses Goethe vertiefen konnte …

© Kay Ganahl, 2016.

Monatsgeschichte für den Monat Mai 2018

Die Sprache der Steine

Jenseits der Worte sprechen die Steine.

Und haben die Worte, Worte um Worte,
dich an den Rand deiner Sprache getrieben,
stehe nicht stumm am Ende der Welt,
stehe nicht – gehe! Geh zu den Steinen,
besprich dich mit ihnen.

Und sprechen die Steine
und worten sich dir, worten sich
und ihre sagenhafte Geschichte,
werden sie aus dem Gewand ihres Namens schlüpfen
wie schillernde Falter aus dem Kokon.
Auch dein Name wird fallen, – er fällt,
fällt von dir ab wie ein lumpiger Fetzen.
Dann bist du licht, bist gelichtet,
und dein Aug ist nicht länger verschleiert.
Denn die Sprache der Steine enthüllt.

Und wenn auf Erden die Steine regieren,
währt ihre Sprache für ewig.
Dann weht das Wort, das furchtbare Wort,
nicht mehr als Trauerflor über dem Land –
und weht kein Schleier mehr über der Wüste –
und ist der Himmel über den Gräbern
nicht mehr verschlossen
sondern steht offen, weit offen
für alle.

© Andreas Erdmann

Monatsgeschichte für den Monat April 2018

Berge haben Charakter

Seit Anbeginn aller Zeit gibt es Berge, steinerne Zeugen von Vergangenheit und Gegenwart. Unbeirrt stehen sie da, reglos und schweigsam. Doch sind sie nicht tot, wie man meinen möchte. Oft machen sie durch spektakuläre Aktionen von sich reden, manche mehr, andere weniger.

Hier zeigt sich die Unterschiedlichkeit der Charaktere. Allen voran das Matterhorn. Eigensinnig und dickköpfig will es verhindern, dass Menschen auf ihm herumklettern. Nicht umsonst trägt es den Beinamen „König und Killer der Alpen“. Kein anderer Berg hat bislang so viele Opfer gefordert.

Die Annapurna steht ihm in nichts nach. Der weibliche Todesberg aus dem Himalaya hat einen extrem lawinenreichen Lebenslauf. Das „Dach der Welt“, der Mount Everest, will partout vermeiden, dass ihm die Menschen aufs Dach steigen. Er ist ein außerordentlich intoleranter Achttausender. Trotzdem hat er sich gegen viele Menschen nicht durchsetzen können. Schließlich muss auch die Eiger „Mordwand“ mit ihren Launen Beachtung finden.

Doch sollte man nicht davon ausgehen, dass alle Berge bösartig sind und den Menschen schaden möchten. Manchmal wehren sie sich nur mit den ihnen gegebenen Möglichkeiten. So auch der Mount McKinley in Alaska. Er lässt die Bergsteiger nicht abstürzen und setzt keine Lawinen ein. Er nutzt seine klimatischen Möglichkeiten, wie Kälte und orkanartige Stürme. Passiver Widerstand führt auch zum Ziel.

Andere Berge dagegen heißen Menschen willkommen. Die Lachenspitze ist ein wahrer Bilderbuchberg, der dem Bergsteiger keine Probleme macht und ihn auch noch mit einer traumhaften Aussicht belohnt. Ebenso gastfreundlich ist der Kärntener Dobratsch, der den Bewohnern der Gegend als Hausberg sehr ans Herz gewachsen ist. Er macht es den Wanderern leicht, seinen Gipfel zu erreichen. Und dann schenkt er ihnen einen Blick, der jede Anstrengung wert ist.

Wieder andere wollen den Menschen helfen, soweit es ihnen möglich ist. Seit hunderten von Jahren geben sie her, was in ihnen steckt, und legen ihre Zugänge zu Schätzen wie Silber oder Kupfer offen. Diese Geschenke sind von großer Bedeutung für die Menschen. Tatsächlich konnte durch Zinn, Blei und Antimon eine ölhaltige Tinte hergestellt werden, die dann von einem Gutenberg genutzt werden konnte.

(© Martina Hörle: Aus der Anthologie „Der Berg bewegt sich“.)

Monatsgeschichte für den Monat März 2018

Im Exil

Eine Kurzgeschichte von Andreas Erdmann.

Berlin im kalten Dezember 1976. Frühmorgens, um Viertel vor Fünf, verlassen drei Menschen im Ostteil der Stadt ihre Wohnung: Der Lyriker Thomas Brasch, seine Lebensgefährtin, die Schauspielerin Katharina Thalbach und die kleine Anna hasten im langen Schatten der Mauer zum Bahnhof Friedrichstraße: „Ist es wahr?“, will der Grenzbeamte der DDR von Thomas wissen, „Genosse Honecker hat Sie persönlich verabschiedet?“  – „Ja, und zwar mit Respekt und mit Handschlag.“ – „D… Dann, auf Wiedersehen!“, stammelt der Volkspolizist und lässt sie passieren. Sie kommen zum Bahnsteig. Sie steigen ein in die erste S- Bahn des Tages, sitzen und warten. Da! der Wagen ruckt an, und sie fahren über die Mauer hinweg von Deutschland nach Deutschland.

Gegen halb Sechs trafen die Drei, mit ihren wenigen Habseligkeiten, am Bahnhof Zoo in Westberlin ein. Ein Reporter trat auf sie zu: „Also wurden, nach Biermann, auch Sie ausgebürgert?“ Nein, gab Thomas, im Laufschritt, zur Antwort, die Behörden hätten ihnen endlich den Ausreiseantrag bewilligt. „So sind Sie freiwillig hier im Exil?“
Thomas blieb stehen und sah den Mann an: „Jeder Mensch lebt im Exil“, sprach er, mit zitternder Stimme. „Ein jeder von uns, hier wie jenseits der Grenze, ist heimatvertrieben, verjagt aus dem Land seines Herzens.“
„Hallo, ihr Lieben!“, vernahmen sie mit einem Mal einen Ruf aus dem Halbdunkel: „Willkommen im Westen!“ Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius kam ihnen auf der Treppe entgegen. Befreites Lachen. Umarmungen. Küsse. Delius trug den Koffer zum Auto. Dann fuhr er Kathi und Anna zu ihren Verwandten nach Tegel. Thomas nahm er in seine Wohnung mit.
Nach dem ersten Schluck Kaffee sprang Thomas auf, wollte telefonieren. „Wen willst’ n anrufen?“ – „Den Jörg Mettke vom ‚Spiegel’, Herrn Schneider und… all meine Freunde im Westen.“  – „Aber Thomas! Die schlafen noch um diese Zeit.“ – „Ja, und?“, lachte er und griff schon zum Hörer, „dann werd ich sie wecken!

Ein paar Wochen später lebte Thomas mit Kathi und Anna in einer eigenen Wohnung. Dort empfing er den westdeutschen Autor Georg Stefan Troller, begleitet von einem Kameramann, Carl Friedrich Hutterer. Sie planten einen Fernsehbericht über den Ex- DDR- Dichter.
„Sehn Sie sich um! Ich brauche nicht viel, weder Schränke noch Heimat“, grinste der Literat. Er führte sie durch die halbleeren, mit spärlichen Möbeln und Kisten eingerichteten Zimmer. „Ich wohne ja in den Räumen der Sprache.“

Troller und Hutterer saßen wartend auf wackligen Stühlen. Thomas ging auf dem Flur auf und ab. Telefonierte mit Theaterregisseur Bondy. Führte dann ein Gespräch mit Katharina, flüsternd im Nebenraum. Endlich kam er zu ihnen, reichte Kaffee, ließ sich bei ihnen nieder.
Viel besser als in der DDR, erklärte er, fühle er sich in der BRD nicht. „Da komme ich aus einem Land, das seine Schmerzen durch Ideologie nicht zu lösen versteht, und lande in einem anderen, das sie durch Geld auch nicht löst.“
Troller verwies auf die Unterschiede.
„Allerdings, die sind krass! Andererseits… Ob ich durch West- oder Ostberlin gehe, erlebe ich hier wie dort Menschen an Orten, die, wie schon Brecht sagte, eigentlich nicht bewohnbar sind“, sagte Thomas und senkte den Blick. „Wohnsilos, Kaufhäuser, Fluchten von Straßen… Stätten, an denen der Mensch sich verliert und sich letztlich nur noch an seiner Arbeit festklammert. Und in diesem Punkt“, er blickte auf, „bin auch ich angeschlagen.“
„Sie arbeiten wieder?“ fragte ihn Troller. -„Ja, ich hab mit der Arbeit an meinem ersten westdeutschen Gedichtband begonnen.“  Wie viele Gedichte er denn schon hier geschrieben habe? „Im Westen?“, meinte er, etwas verlegen, „ehrlich gesagt, noch kein einziges. Es ist seltsam, ich konnte bislang hier nicht schreiben.“ Wie gehe das zu, ein Gedichtband ohne Gedichte? „Nun, es wird es eine Sammlung mit früheren Texten, die ich überarbeite…“ Thomas erhob sich und trat an die Fensterbank, nahm seinen Fotoapparat in die Hand und erklärte: „Sehen Sie, dazu schieße ich Fotos. So mache ich erst mal Bilder statt Worte. In Worte kann ich das, was ich im Westen erfahre, bislang nicht fassen. Es ist unbeschreiblich.“

Klack! Klack! Klack! – Thomas stand auf dem Kurfürstendamm und fotografierte Fassaden von Kaufhäusern, Schaufenster, Türen.
„Tja, so schaut’s aus in diesem großen Kaufhaus des Westens“, sprach er zu Troller und Hutterer, kehrte sich um und lichtete – Klack! die automatische Schiebetür zu einem Autohaus ab. „All diese Türen im Herzen der Stadt“, erläuterte er, „dienen nicht mehr der Begegnung von Menschen sondern einzig dem Kundenfang. Und alle Menschen hier leben offensichtlich nur noch davon, zu kaufen und zu verkaufen.“ Sprach’ s und grinste in Hutterers laufende Kamera: „Genauso wie wir. Wir verkaufen ja Brasch!“
Solch einen Eindruck, so Troller, bekäme man wohl, wenn man sich nach den Jahren des Mangels im Osten plötzlich im Überfluss wiederfände?
„Aber in Westen herrscht doch derselbe Mangel!“, gab Thomas zurück, „er wird nur vom Warenstrom überdeckt. Jenseits der Mauer ist sichtbarer, dass etwas fehlt, und darum erscheint ein Land wie die DDR in Westeuropa so unpopulär.“
„Sie sprechen vom Mangel am Wesentlichen…?“ – „O ja, natürlich!“ – „Sie meinen, man kauft all diese Dinge weil man eines – Liebe nicht kaufen kann?“
„Liebe, auch Freundlichkeit und Vertrauen, Achtung und Lebensmut… all dies, woran es den Menschen heut fehlt, ist nicht käuflich“, sagte er, schaute sich um in der Einkaufstrasse, „aber die bessere Stereoanlage!“, fügte er an und fotografierte – Klack! Klack! – ins Schaufenster eines Rundfunkgeschäfts.

Die Männer gelangten zum Breitscheidplatz. Da hob Thomas den Blick, schaute auf zum zerbombten Turm der Gedächtniskirche und sagte, im bitteren Ton: „Germania ist von den Narben der deutschen Geschichte gezeichnet. Die alte Dame leidet so schwer an den tiefen, klaffenden Wunden des über Jahrhunderte dauernden Krieges. Dazu das Blut nach jenem ungeheueren Blutbad des Naziregimes… Bis auf den heutigen Tag ungestillt…“ Troller schwieg, starrte auf die Ruine.
„Man müsste die kranke Dame behandeln“, sprach Thomas. „Aber Germania leugnet den Schmerz. Sie benimmt sich wie eine seltsame, alternde Schauspielerin, geht in die Maske und lässt sich im Osten Schicht um Schicht Schminke auftragen. Dazu den Duft verstorbener Geister…“ – „Und bei uns im Westen?“, fragte Hutterer.
„Ach!“ Thomas blickte sich um, „da schüttet man massenhaft Geld in Germanias Wunden, worunter sich alles nur noch mehr entzündet.“
„Mal zu uns beiden“, sprach Troller zum Ende der Dreharbeiten, „ich habe den Eindruck, Sie fühlen sich vom Fernsehen ausgebeutet?“
„Nein. Allerdings geht es bei Ihnen zu wie im Restaurant: Sie sind der Kellner, die Fernsehzuschauer sind ihre Gäste, und ich bin das Schnitzel.“
Troller grinste bei dem Vergleich, und Thomas fuhr fort: „Die Frage ist, ob Sie das Schnitzel so zubereiten, dass es den Gästen auch schmeckt.“
„Sie meinen, ob es nach Schnitzel schmeckt? und Sie authentisch sind?“
„Nein, dass Geschmack dran kommt, wenn auch nur Würze.“
Ihm gehe es aber um Authentizität, verwehrte sich Troller: „Ich möchte, dass es nach Ihnen schmeckt…“
Thomas erbleichte, senkte den Blick: „So spricht der Menschenfresser!“

„Und?“ fragte ihn Katharina am Abend, „wie ist die Sache mit Troller gelaufen?“
„Weiß nicht“, Thomas zuckte die Schultern. „Ich war etwas frech zu  ihm.“
„Kommst du denn mit deiner Arbeit voran?“
„Die Fotos gehen mir gut von der Hand. Doch mit dem Dichten ist’s furchtbar. Mir scheint, ich kann nicht mehr schreiben.“
„Vielleicht ist die Sprachlosigkeit nur bezeichnend für diesen Ort, diese Zeit.“
„Tja, man sucht noch zu schreiben, zu sprechen, zu denken, wie es der Mensch seit hunderttausend Jahren gelernt hat. Und nun sieht man mit an, wie die Sprache zerfällt. Sie geht immer mehr in den Bildern der Werbe- und Fernsehwelt unter; für immer weniger Dinge gibt es noch Wörter, und alles verschwimmt, verschwindet in einer gewaltigen Bilderflut.“
Die Frau nickte, ergriff seine Hand: „Ach, Kathi!“ seufzte er da, und ein feuchter Glanz legte sich ihm auf die Augen, als er sie unverwandt ansah: „Es sind ja Dinge, die kann man nicht… kann man nicht aussprechen. Die kann man einfach… die… Dafür gibt’s keine Worte.“

Monatsgeschichte für den Monat Februar 2018

Die Zeitfrage

In meinem Traum traf ich die Zeit
wir unterhielten uns recht lang
Ich kam bald in Verlegenheit
wie lieblich ihre Stimme klang

„Komm, zeig dich mal!“, rief ich dann schrill
und schaute ganz erwartungsvoll
„Ich ungesehen bleiben will.
Sei bitte nicht so anspruchsvoll!“

„Nun gut, auch wenn ich dich nicht seh
Was ich schon immer wissen wollt
Die Antwort ich von dir erfleh
Sie ist mehr wert als Geld und Gold

Als Kind nahm ich dich anders wahr
du warst stets so gemächlich
Dann stelltest du dich anders dar
du warst flugs ganz erträglich

Doch heute eilst du immer schneller
die Umkehr der Verzögerung
Du als des Lebens Hauptdarsteller:
Was ist der Grund der Änderung?“

Die Zeit nach einer Weile lachte
und mir dann zu verstehen gab:
„Ich mir dabei schon etwas dachte
Das geht so weiter bis ins Grab

Ich nicht werde immer schneller
nur höchstens individueller
Du wirst von mir stets gleich behandelt
DU bist das, was sich verwandelt.“

(© Beate Kunisch)

Monatsgeschichte für den Monat Januar 2018

Die erste Monatsgeschichte des neuen Jahres liefert Kay Ganahl.

Heiliger Abend: Demo in Solingen

Satire von Kay Ganahl

Der Winter hat ja, was das Wetter anbetrifft, noch nicht richtig angefangen … am Heiligen Abend hätte man sich schon ordentlich Schnee auf Straßen und Plätzen unserer Stadt gewünscht. Ich schlenderte an diesem „Abend der Abende“ die Hauptstraße hoch, hatte gerade meine Mütze über die Ohren gezogen, als ein bebrillter Zeitgenosse, in Schaftstiefeln, auf mich zustürzte. Vor Schreck starrte ich ihn erst nur an. Er war blass im Gesicht, fragte mich ziemlich wirres Zeug, unter anderem aber auch nach dem Rathausplatz, wo angeblich eine „Demo für die Reform des Weihnachtsfestes“ stattfinden sollte.

Darüber staunte ich sehr, konnte ich mir doch gar nicht vorstellen, dass am Heiligen Abend irgendjemand an so einer Demonstration teilnehmen würde. „Absurd!“ gab ich von mir. Dann erklärte ich allerdings dem jungen Mann, der so um die 20 Jahre alt und ganz blond war, den Weg. Sofort strebte er in Richtung des Rathausplatzes. Ich war neugierig geworden, weshalb ich ihm unauffällig folgte. In der City war alles still – 18, 19, 20 Uhr war die Zeit des traditionellen Schenkens und Beschenktwerdens in den Familien. Dann beobachtete ich, dass der junge Mann, am großen Briefkasten auf dem Platz angekommen, aus seinem wetterfesten Rucksack ein Transparent herausholte, auf dem „Für die Verteilung von Kunstschnee am Heiligen Abend in Solingen!“ stand. Nach kurzer Zeit gesellte sich eine Gruppe von Gleichgesinnten zu ihm. Sie skandierten schließlich „Wir fordern, dass die Stadt Solingen in Solingen gratis Kunstschnee verteilt!!!“ Ich staunte nun noch viel mehr.

(© Kay Ganahl, 2017)