Monatsgeschichte für den Januar 2017

Kanzlerin allein zu Haus
Karla J. Butterfield

Sie steht in ihrer Hotelsuite am Fenster und schaut auf die Straße. Überall Straßencafés, Musik, Rosenverkäufer, sommerlich gekleidete Menschen auf der Jagd nach den frischen Sonnenstrahlen. Sie wendet den Blick ab und schaut auf ihre Hände.

Das Land ist überfüllt, die Mieten steigen. Hier muss eine Lösung gefunden werden. Die Finanzmärkte sehen nicht gut aus. Es gibt Entscheidungen, die man nicht auf die lange Bank schieben sollte. Welche Konsequenzen werden die Wahlen in den USA, der Brexit auf die Weltpolitik haben? Sollte man sich darauf vorbereiten? Sie muss noch einmal die Rede über die Flüchtlingsquoten durchgehen. Der Empfang heute Nachmittag steht an. Friseur, Festgarderobe, Maske – das Fernsehen ist dabei.

Ihr Ehemann ist bereits heute früh von einem Fahrer abgeholt worden. Er fährt zu einem Kongress nach Genf, dann nach Bruxelles. Er hat noch Probleme mit seinem Englisch. Sie selbst spricht mehrere Sprachen. Jeden Abend vor dem Schlafengehen hört sie eine Kassette mit „Arabisch lernen“. Vor der Abreise sagte er zu ihr: Sorge dich nicht ständig, lass los, dann kannst du Berge versetzen.

Der Tag ist überstanden. Sie steigt aus der Limousine, atmet die Sommergerüche ein. Der Wagen entfernt sich. Die Bodyguards bleiben vor dem Haus stehen. Die Wohnung ist leer, als hätte sie jemand mit dem Löffel ausgehöhlt. Sie nimmt ein Bad, danach geht sie in die Küche und wärmt sich das Gulasch, das die Köchin für sie vorbereitet hatte, in der Mikrowelle auf. Gulasch mit dunkler Soße und Serviettenknödeln. Ordentlich scharf mit Kümmel und Sahne. Plink, das Essen ist fertig. Sie setzt sich zu Tisch, atmet tief ein, piekt das erste kleine Stück Fleisch auf, führt es zum Mund und kaut nachdenklich. Es schmeckt heute besonders gut, trotz der Hitze. Diese Ruhe, nur die Luft flüstert leise. Sie kann ihre Kaubewegungen hören. Isst gemächlich, abwechselnd Knödel, Fleisch, Paprikastückchen. Nun ist nur die braune sämige Soße übrig. Langsam senkt sie den Kopf und tunkt ihre Zunge in die Soße hinein, (sie möchte den Zauber dieses Genusses nicht durch das Aufstehen und Löffel holen zerstören), schürzt die Lippen und schlürft, als wäre sie ein Staubsauger. Ihre Haare fallen seitlich hinab und bilden ein schützendes Zelt um den Teller. Sie schließt die Augen und taucht noch tiefer hinein. Saugt und schlürft, leckt und schmatzt. Ganz allein, in der Stille des Hauses, für diesen einen Augenblick lässt sie los.

© Karla J. Butterfield